Armlehne rauf, Armlehne runter
Der neue Passagiersitz für die Lufthansa-Europakabine hat ausgiebige Tests hinter sich
Am Ende war das Anforderungsdokument für den neuen Passagiersitz, der ab Dezember mit dem neuen Bordpro-dukt im Europaverkehr starten soll, ein dickes Buch mit 225 Seiten.
„Bevor man sich an die Arbeit an einem völlig neuen Flugzeugsitz macht, schaut man sich erstmal den bisherigen Sitz ganz genau an“, beschreibt Michael Schell den ersten Schritt auf dem langen Weg zum neuen Sitz. „Wir befragen Kunden, Reini-gungspersonal, Flugbegleiter und Techniker intensiv zum aktuell eingesetzten Sitz. Probleme, Lob und Kritik werden aus-gewertet und wandern in das Lastenheft für die Neukonstruktion“, erklärt der verantwortliche Entwicklungsingenieur für die Umrüstung der neuen Lufthansa-Europakabine. „ ,Lessons learned‘, nennen wir das.“ Schon die zentralen Forderungen der gemeinsamen Ausschreibungsunterlagen von Lufthansa, Austrian Airlines und Swiss lasen sich wie ein kaum vereinbarer Widerspruch: ein großzügigeres Raumgefühl für den Fluggast bei verringertem technischen Sitzabstand und eine deutliche Gewichtsreduzierung bei insgesamt gesteigerter Haltbarkeit und Belastbarkeit. Größer hätte die Herausforderung an die Entwickler kaum sein können. Anfang Dezember 2009 gingen die Unterlagen den weltweit größten Sitzherstellern zu. Paral-lel beauftragte das Lufthansa- Produktmanagement zusammen mit dem Lufthansa- Brand-Management eine Londoner Designagentur, einen zeitgemäßen Auftritt für die Ausstattung der neuen Europakabine zu entwickeln. In enger Abstimmung mit den Fachabteilungen in Frankfurt wurden Farbgebung, Oberflächen und Materialübergänge festgelegt. Schon im Januar 2010 trafen die technischen Zeichnungen und Konstruktionsbeschreibungen der Sitzhersteller ein. Ein Team aus Produkt-managern, Designern, Technikern, Crew-Vertretern, Marketing- und Vertriebsfachleuten traf eine Vorauswahl von vier ver-schiedenen Sitzmodellen, von denen die Hersteller mehrere Prototypen bauten. Die praktischen Tests konnten beginnen. „Wir haben erstmal den subjektiven Eindruck entscheiden lassen“, sagt Andreas Schöniger, der verantwortliche Produktma-nager für Kabinenausstattung und Sitze. „Statt nackter Fakten und objektiver Messwerte haben wir gleich zum Auftakt unse-re Test-Zielgruppe unter realitätsnahen Bedingungen mit den Prototypen konfrontiert.“ Alle Prototypen der Sitzalternativen, einschließlich der aktuellen Sitze, wurden in das 1:1-Modell einer A320-Kabine im Lufthansa-Testcenter eingebaut und insgesamt 269 Vielflieger zum ‚Probesitzen‘ eingeladen. „Weiteres Feedback kam von unseren Vorständen, Management-Kollegen, Vertretern des fliegenden Personals und Mitarbeitern aus Vertrieb, Marketing und Technik“, berichtet Schöniger. Die Resonanz der Tester war überaus positiv, der Gewinn an Raumgefühl und Komfort hat alle Testteilnehmer auf Anhieb überzeugt. Die Marktforschungsabteilung der Lufthansa und ein externes Institut, das sich auf Kundenforschung speziali-siert hat, arbeiteten das gesammelte Feedback zu einer Entscheidungsgrundlage auf. „Von den vier getesteten Sitzmodel-len hat sich ein Prototyp durchgesetzt“, resümiert Schöniger. „Bei der Entscheidung gaben Raumgewinn für die Fluggäste und die Aussicht auf geringere Wartungskosten den Ausschlag.“ Jetzt begann die Arbeit an den Details. In einem Workshop mit Ergonomie-Experten von der Technischen Universität München wurde die Sitzposition und die Sitzkontur optimiert. Die Sitze absolvierten die gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitstests ebenso wie die Lufthansa-spezifischen Dauerbelas-tungstests. „25 000 mal Armlehne rauf, 25 000 mal Armlehne runter – das gehört nun mal dazu“, sagt Milutin Bogdanovic, Systemingenieur für Flugzeugsitze bei Lufthansa Technik. „Spektakulärer war da schon der erste der drei großen Abnahme-termine.“ Der fand nämlich virtuell statt – als Computersimulation in 3D. Auf diese Weise legten alle am Projekt Beteiligten gemeinsam die letzten Änderungen fest. „Abschließende Freigaben werden allerdings noch immer am realen Prototyp er-teilt, da muss auch die Haptik stimmen“, weiß Bogdanovic. Der Sitz der neuen Europakabine ist derzeit bereits in der Pro-duktion, Stück für Stück und größtenteils in echter Handarbeit. „Mehr Raumgefühl, erhöhter Komfort und verbesserte Wirt-schaftlichkeit in Kombination mit einer hohen Zuverlässigkeit – all das konnte in einer intensiven Zusammenarbeit unserer Spezialisten mit der Firma Recaro realisiert werden“, sagt Christian Körfgen, Leiter Produktmanagement und Innovation für Kont und Interkont. „Bis zum Herbst werden die ersten Sitze ausgeliefert. Das ist eine echte Aufwertung unseres Angebotes auf den deutschen und europäischen Strecken.“

Ab November können Lufthansa-Mitarbeiter die neuen Sitze im Rahmen einer internen Roadshow begut - achten und selbst auspro - bieren. Die ersten Flugzeuge mit der neuen Europakabine gehen dann im Dezember 2010 in den Linieneinsatz. Offiziell vor ge-stellt werden die neue Europakabine und der Sitz den Medien, der Öffentlichkeit und Lufthansa- Fluggästen nach dem Jahreswech-sel.

....going low-cost does not mean going no-frills!